Zur Orientierung: Natalie ist auf Klassenfahrt in Italien. noch passiert nichts besonders aufregendes.
1.
Kapitel
07.
Dezember
Ich stehe auf einer
Waldlichtung, auf der nur Tulpen blühen (meine Lieblingsblumen). Vor mir steht
ein mir wohl bekannter junger Herr, dessen meerblaue Augen mich jedes Mal
verzaubern, obwohl ich ihn nun schon sehr lange kenne. Nur normalerweise sind
sie nicht meerblau, sondern braun.
Warum wachsen hier
nur Tulpen?, ist meine Frage.
Das habe ich nur für
dich gemacht, Anira. Du magst doch Tulpen, nicht?, fragt mein Gegenüber.
Ich mag Tulpen, aber
ich heiße nicht Anira, mein Name ist ...
Und dann vernehme ich
den verzweifelten Schrei meiner Freundin Jennifer Torvilli und wache auf.
Da ich eine gute
Freundin bin, stehe ich auf und sehe nach Jenny. Und wie ich es mir schon
gedacht habe, war es ein Albtraum gewesen, der meine Freundin hatte schreien
lassen.
Noch immer wälzt sie
sich schreiend und schlafend in dem Bett unter meinem (das Bett ist ein
Etagenbett). Ich klettere aus meinem Bett und berühre ihren Arm, damit ich sie
wachrütteln kann. In meinem inneren Auge sehe ich Folgendes:
Jenny steht auf einem
sehr hohen Gebäude. Dreißig Stockwerke ist es hoch. Sie steht direkt am Abgrund
und blickt in die Tiefe. Hinter ihr
stehen wir, unsere Klasse. Wir haben alle prächtige Flügel auf dem Rücken, nur
Jenny nicht. Wir werden uns alle von dem Gebäude stürzen, wir sehen aber nicht,
dass Jenny gar nicht fliegen kann …
Ich weiß nicht, woher
diese Bilder kommen. Sie sind einfach da.
»Jenny, komm zu dir!
Jenny!«
»Waahhh!«
Und dann wacht sie
endlich auf.
»Oh, Natalie. So früh
schon wach?«, murmelt sie verschlafen. Sie fährt mit ihren Fingern durch ihre
schwarze Bobfrisur.
Ihr seht, mein Name
ist nicht Anira, sondern Natalie, Natalie Wende.
»Hättest du dich auch
schreien hören, wärst du nicht so verwundert.«
Alicia Richter, die
gerne Leute belauscht und unser Gespräch mitbekam, meldet sich zu Wort.
»Sie hat doch gar
nicht geschrien!«
»Ich glaube, ihr seid
taub, wenn es euch passt!«
»Wenn sie geschrien
hätte, hätte ich das wohl mitbekommen. Und Lila wäre auch aufgewacht.«
Ich werfe einen Blick
zu Lila Sommer, die immer noch friedlich schläft.
Seltsam...
Ich habe angeblich
mal wieder etwas vernommen, das die Anderen nicht hören.
Das hat an meinem 16.
Geburtstag vor einem Monat begonnen.
Jemand hat geflüstert,
und als ich meine Freunde darauf hingewiesen habe, hatten sie nichts gehört.
Das ging die ganze Woche so, und ich habe anfangs angenommen, dass dies nur ein
Scherz ist. Aber als ich erfuhr, dass auch die Erwachsenen nichts hören, war
ich mir sicher, irgendetwas stimmt nicht. Ich konnte und kann mit keinem
darüber reden, weil ich die Einzige bin, die diese Geräusche hört. Nach und
nach kamen auch noch weitere Geräusche hinzu, wie Schreie, Tierlaute und das
Plätschern von Wasser. Bilder, die ich plötzlich sah. Aber auch das hörte
niemand. Halluzinationen, angeblich.
Also gebe ich es auf,
weiter zu diskutieren, setze mich ans Fenster und genieße die Aussicht auf die
Stadt.
Wir waren erst vor
einem Tag in Calais angekommen. Es gefällt mir sehr gut hier, obwohl ich noch
nicht viel von der Stadt gesehen habe. Obwohl sie am Meer liegt, waren wir in
einer Jugendherberge mitten in der Stadt platziert. Warum machen wir die
Klassenfahrt dann nicht direkt in einer Stadt, die nicht am Meer liegt?
Verstehe einer die Erwachsenen. Stattdessen haben sie einen Ausflug in ein
Aquarium geplant, das am Meer liegt! Okay, vielleicht ist es Anfang Dezember
auch ein bisschen zu kalt fürs Meer.
Ich sehe auf die Uhr
über meinem Bett und muss feststellen, dass das Frühstück in fünf Minuten
beginnen wird, um acht Uhr. Auch Jenny sieht auf die Uhr.
»Ich denke, wir
sollten uns beeilen, sonst macht Elvis Hackfleisch aus uns!«, meint Jenny dann.
Alicia lacht. »Ach,
die kann vermutlich gar kein Hackfleisch machen.«
»Ja, aber ich würde es nicht darauf ankommen lassen!«
»Scheiße! Jetzt habe
ich keine Zeit mehr meine Haare zu waschen.« Alicia blickt verzweifelt in den
Spiegel an der Wand neben ihrem Bett. Ihre welligen hellblonden Haare sind ein
echtes Problem für sie. Sie werden innerhalb von 24 Stunden fettig und kraus.
Sie sieht aus, als hätte sie schon eine Woche nicht geduscht, obwohl es gerade
mal ein Tag ist. »Was jetzt?«
Ich öffne eine kleine
Wasserflasche und schütte sie über ihrem Kopf aus. Klar, was passiert. Sie wird
nass.
»Was soll das?«,
fragt sie entsetzt. Ich krame den Föhn aus ihrem Koffer und gebe ihn ihr.
»Halt.« Dann nehme ich ein Deo aus meiner Tasche und sprühe ihre Haare damit
voll. Jetzt hat Alicia verstanden. Sie beginnt sich zu föhnen.
Ich lächle sie an.
»Tja, so bin ich. Spontan. Aber das ist natürlich keine Lösung. Nach dem
Frühstück solltest du duschen gehen.«
Inzwischen haben
Jenny und ich uns umgezogen und frisiert. Alicia zieht ihr Nachthemd nicht aus,
sie stopft es in ihre Hose und zieht eine Jacke über. »Tja, so bin ich.
Spontan.«
Als wir im Speisesaal
ankommen, sind die meisten Tische besetzt, aber wir sind nicht zu spät. Ein
Glück, dass jemand es geschafft hat, einen ganzen Tisch für uns freizuhalten.
Dieser Jemand ist James Messing, der Junge, von dem einige vermuten, heimlich
mit Alicia zusammen zu sein. Aber ich weiß es besser. Ich bin ja nicht
blind. Sie sind nicht zusammen. Sie
passen so gut zusammen, wie die Faust aufs Auge, aber sie lieben sich nicht. Wo
Lila sich hinsetzen wird ist mir egal, denn sie ist die Zwillingsschwester von
Lilia Sommer, und beide gemeinsam sind 'Anhänger' meiner Feindin Marilena
Thiel, auch Mary genannt. Die drei zusammen bilden das Girly-Trio. Lila ist in
unserem Zimmer, weil Mary nur ein Zweier-Zimmer abbekommen hat.
Ich begebe mich zum
Büfett, wo ich mir einfach eine Schüssel mit Schoko-Müsli hole. Kaum sitze ich
am Tisch, da kommt auch schon unsere Lehrerin Larissa Effis, die von uns, den
Schülern, Elvis genannt wird, um uns den Tagesablauf mitzuteilen.
»Bonjour, mes enfants«, begrüßt sie uns. »Ich hoffe, ihr
habt gut geschlafen. Heute werden wir eine Stadtrallye machen. Die Gruppen
hatten wir ja schon eingeteilt. Wir werden alle gemeinsam losgehen. Bis dahin
habt ihr eine Stunde. Wenn ihr etwas kaufen möchtet, solltet ihr Geld
mitnehmen. Nach dem Frühstück schickt dann jede Gruppe eine Person zu mir, die
die Blätter für die Rallye abholt. Weiteres besprechen wir später. Bon appétit!«
Eine Stunde. Um halb
zehn. Reicht für eine Dusche. Wo die Waschräume sind weiß ich schon.
»Hey, ich gehe
duschen, bis dann« Ich hole mein Zeug und gehe duschen. Hatte ich schon
erwähnt, dass ich duschen gehe?
Als ich mich
einshampooniere, bemerke ich mal wieder das Muttermal auf meiner linken
Schulter. Es hat die Form einer Tulpe. Vielleicht sind Tulpen deswegen meine
Lieblingsblumen und wachsen jedes Jahr in unserem Garten, obwohl sie niemand
dorthin gepflanzt hatte. Wer weiß? Obwohl das nicht wirklich Sinn macht. Die
Blumen hat vermutlich der Besitzer vor uns gepflanzt. Mein Vater sagt, das
Muttermal solle nie jemand sehen, es sei denn, meine Mutter wär dabei. Doch da
meine Mutter verschwunden ist, kann ich weder Tops tragen, noch schwimmen gehen. Nicht, dass ich nicht wüsste wie man
schwimmt, wir haben einen Pool im Garten.
Girly Trio ;) Hört sich cool an ;)
AntwortenLöschenAber wieso sprüht sie Deo auf Alicias Haare?
Lg Mila
Hmm ...Gute Frage eigentlich.Ich denke, ihre Haare riechen auch so, als hätte sie eine Woche nicht geduscht. Das habe ich wohl beim Schreiben gedacht, aber dann nicht aufgeschrieben.
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